Alternative zu staatlichen Schulen: Was Sie als Lehrkraft beim Wechsel an eine freie Schule erwartet
Foto: FreiRaum-Schule Gelnhausen
Der Gedanke, in einem neuen Umfeld die eigenen pädagogischen Fähigkeiten besser einsetzen zu können, bewegt viele Lehrkräfte. Der Wechsel von staatlichen zu freien Schulen bietet hierfür spannende Möglichkeiten, stellt die Lehrenden jedoch auch vor neue Herausforderungen.
Dieser Beitrag beleuchtet die Beweggründe für diesen Schritt und gibt Einblicke in die Veränderungen, die mit einem solchen Übergang einhergehen. Zudem werden die spezifischen Anforderungen und Chancen, die die Arbeit an einer freien Schule mit sich bringt, näher betrachtet.
- Der Wunsch nach Wandel - ein paar Worte vorab
- Freie Schule ist nicht gleich freie Schule
- Der finanzielle Aspekt
- Bereitschaft zur Entwicklung
- Die Basis: Sichere Beziehungen
- Ein Tag in der FreiRaum-Schule
- Wie sieht der Alltag des Lernbegleitenden aus?
- Alles kann - nichts muss
- Soziokratie als Organisationsform
- Was gewinne ich durch einen Wechsel an eine freie Schule?
Wer kennt das nicht aus dem eigenen Berufsalltag? Dieses Gefühl, da draußen wartet noch etwas Anderes auf mich. Die Ahnung davon, die eigenen Fähigkeiten in einem veränderten Umfeld wirksamer und wertvoller einbringen zu können. Und die Gewissheit, dass anderen ein solcher Übergang gelungen ist.
Ähnliche Gedanken gingen auch Bianca Helfmann durch den Kopf, als sie sich nach ihrer Elternzeit und unter dem Eindruck der neuen Rolle als Mutter für die Gründung einer freien Schule entschied.
“Ich bin als Förderschullehrerin an einem regionalen BFZ viel herumgekommen, habe unterschiedliche Schulen erlebt. Großartiges, aber auch viel Frustration und Not sowohl bei den Lehrenden als auch bei den vermeintlich Lernenden wahrgenommen.
Im Setting Förderschule gibt es unglaublich viel Freiheit, Möglichkeiten, Beziehung und Austausch. Neben den festen Strukturen auch Handlungsspielraum in Bezug auf Individualität z.B. bei der Bewertung oder den Hausaufgaben.
Das gibt es theoretisch auch an Grundschulen und den weiterführenden Schulen. Leider findet dieser Freiraum nur wenig Umsetzung im Alltag. Aber irgendwann war das Spannungsfeld für mich zu groß. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, Kinder zu bewerten, mit sogenannten “Schwachen” und “Störern” zu arbeiten, weil sie nicht richtig sind, so wie sie sind.”
Der Wunsch nach Wandel - ein paar Worte vorab
Dieser Beitrag schafft einen Einblick in die Veränderungen, die ein Umstieg von einer Beschäftigung als Lehrerin bzw. als Lehrer an einer “konventionellen” Schule hin zu einer Aufgabe in einer freien Schule mit sich bringt. Und er möchte eine Idee davon geben, wo die Herausforderungen liegen und wie ihnen begegnet werden kann.
Es empfiehlt sich, ehrlich zu hinterfragen, was die persönliche Motivation hinter einem möglichen Wechsel an eine freie Schule ist. Will ich nur von etwas weg, was sich als zehrend und anstrengend erwiesen hat?
Projiziere ich meinen Wunsch nach Sinnhaftigkeit in ein alternatives pädagogisches Modell, ohne mir darüber bewusst zu sein, dass es sich auch hier um “Arbeit” handelt, die anstrengend und zehrend sein kann?
Habe ich eine Idee davon, wie sich meine pädagogische Herangehensweise in einer freien Schule umsetzen lässt? Bin ich bereit, diesen Ansatz mit anderen Menschen zu verhandeln und zu überdenken? Was darf ich hierfür lernen und was sollte ich an Methoden verlernen?
Freie Schule ist nicht gleich freie Schule
Eine freie Schule ist eine Schule in freier Trägerschaft, also eine private Schule. Träger der Schule können ein Verein sein, aber auch eine Elterninitiative oder eine GmbH. Schulen in freier Trägerschaft sind sogenannte Ersatzschulen. Sie müssen sich an den staatlichen Lehrplänen orientieren.
Freie Schulen unterscheiden sich untereinander stark in ihrem Konzept und ihrer pädagogischen Ausrichtung. Sie reichen von einem klassischen privaten Gymnasium über Waldorf und Montessori bis hin zu Freien Demokratischen Schulen oder anderen sehr freilassenden Ansätzen.
Unterschiede zwischen den Schulen liegen auch in der Umsetzung ihres pädagogischen Konzepts. Es empfiehlt sich eine aufmerksame Studie der Internetpräsenz wie auch von Presseartikeln. Ein persönliches Gespräch oder eine Hospitation bringen weitere Klarheit.
Der finanzielle Aspekt
Viele freie Schulen sind chronisch unterfinanziert. Die Finanzierung kombiniert sich aus der staatlichen Ersatzschulfinanzierung (die sich an der Schülerzahl bemisst) und den Schulbeiträgen der Eltern. Da der Betreuungsquotient an freien Schulen oft über dem von “konventionellen” Schulen liegt, mindert dies natürlich das Gehalt pro Lehrkraft. Auch die Elternbeiträge können nicht beliebig angehoben werden.
Darüber hinaus fallen beim Umstieg an eine freie Schule weitere Vorzüge weg. Beihilfe, private Krankenversicherung, Verlust eines hohen Gehalts, Anstellungssicherheit und Versorgungsansprüche (bei Verbeamtung).
Bereitschaft zur Entwicklung
Im weiteren Verlauf beziehen wir uns auf Schulen, die alternative pädagogische Ansätze erproben, einen eigenen Wertekanon haben und Kindern auf Augenhöhe begegnen. Viele der Hinweise können jedoch auch auf andere Varianten freier Schulen übertragen werden.
Die Fähigkeiten, die das Wirken an einer freien Schule erfordert, sind zum Teil von der Natur gegeben. Zuhören, Empathiefähigkeit, Flexibilität, BEziehung statt ERziehung. Und dennoch erfordert diese Arbeit beständiges Lernen und ggf. eine Ausbildung zur Lernbegleiterin/zum Lernbegleiter.
Folgende Fragen sind ebenfalls von Bedeutung: Wie sehe ich Kinder? Welche Werte sind mir in Bezug auf Kinder und die Welt als Ganzes wichtig? Will und kann ich Kindern auf Augenhöhe begegnen? Gelingt es mir, mich in meiner Rolle als Lernbegleitung zurückzunehmen und den Kindern in ihrer Entfaltung Raum zu geben?
Die Basis: Sichere Beziehungen
Sichere Beziehungen sind die absolute Basis für unser gemeinsames Sein in der Schule.
- Das heißt, wir sind verlässlich. Wir bleiben, auch wenn es anstrengend, unangenehm oder schwierig wird.
- Wir machen Beziehungsangebote und nehmen sie auch an.
- Wir bleiben in Verbindung. Und versuchen das auch mit den Eltern zu leben.
- Wir üben uns darin, Strafe, Bewertung, Kontaktabbruch oder Vermeidung zu erkennen und damit einen Umgang zu finden.
Dazu die Schulleiterin Kristina Betz: “Ich bin eine starke Befürworterin, dass Kinder als vollwertige Menschen von klein auf wahrgenommen und behandelt werden. Die Welt sieht leider in vielen Fällen noch so aus, dass die Erwachsenen über den Kindern stehen, egal in welchem Bereich (Stichwort Adultismus), dies ist an unserer Schule zum Glück ganz anders.
Mir ist ein authentisches und gleichwürdiges Miteinander wichtig – an der FreiRaum-Schule muss ich keine „(Lehrer-)Rolle“ spielen, ich kann ich selbst sein und verantwortungsvoll in Beziehung mit den Kindern gehen.”
Ein Tag in der FreiRaum-Schule
FreiRaum - dieser Name beinhaltet ein Versprechen. Die Aussicht auf einen selbstbestimmten Schulalltag. Und eine Orientierung an Werten, die Kinder in ihrer Entwicklung fördern. Die FreiRaum-Schule Gelnhausen ist inspiriert von den 4-Werten Jesper Juuls. Verantwortung, Gleichwürdigkeit, Integrität und Authentizität. In Kombination mit der Pädagogik von Mauricio und Rebeca Wild ergibt sich so eine ganz eigene Lernform.
Kristina Betz: “Mein Sohn zeigte und zeigt mir alltäglich, wie freies und intrinsisch motiviertes Lernen und die Auseinandersetzung mit der Welt im eigenen Tempo und nach eigenem Interesse funktionieren und wie wichtig dabei Bindung und Beziehung sind. Ich wünsche mir, dass alle Kinder so sein dürfen, wie sie sind! Sie besitzen von Natur aus Staunen, Neugierde und Wissbegierde.”
Die Schülerinnen und Schüler starten mit einer Gleitzeit. Ab acht Uhr ist das Schulgebäude geöffnet. Bis neun Uhr ist Zeit zum Ankommen und die Möglichkeit, die ersten selbstbestimmten Erfahrungen zu machen. Es gibt Kinder, die biegen direkt in die Bücherei ab, andere zieht es schon ins Lernbüro. Natürlich kann in diesem Zeitraum gefrühstückt werden oder es entwickeln sich die ersten Spiele.
Am Montag ist dann um neun Uhr ein Morgenkreis, gefolgt von den sog. FreiRaum-Zeiten. Hier können die Schülerinnen und Schüler sich gemäß ihren Impulsen und Interessen unterschiedlichen Themen widmen - z.B. einem Filmprojekt, dem Bauen oder Zerlegen eines technischen Geräts oder Achtsamkeitsübungen.
Oder sie lassen sich von der sog. vorbereiteten Umgebung inspirieren. Das Spektrum ist breit - von Montessori-Material über klassische Lehr- und Lernbücher bis hin zu einer vollständig ausgestatteten Küche, in der oft kreative Gerichte entstehen.
Außerdem steht den Schülerinnen und Schülern jederzeit der Schulgarten für ihre Tätigkeiten offen. Sie spielen dort, bauen etwas, befassen sich mit dem Gemüsegarten oder ernten die reifen Kirschen. Sogar im nahe gelegenen Stadtgarten können sie gemeinsame Streifzüge machen.
Wie sieht der Alltag des Lernbegleitenden aus?
Da gibt es viele Gespräche, Arbeit mit einem Kind oder in kleinen Gruppen, beobachten, wahrnehmen, zuhören, Bedürfnisse erkennen, Gefühle aushalten, schauen wo steht der/die Einzelne, welche Wege eignen sich am besten, um das individuelle Ziel des Kindes zu erreichen?
Natürlich bieten viele freie Schulen Raum für Eigeninitiative und das Erproben eines persönlichen pädagogischen Ansatzes - aber eben meistens im Abgleich mit dem Team, der pädagogischen Ausrichtung der Schule und ihren Werten.
Tägliche Besprechungen mit den Kolleginnen und Kollegen, regelmäßiges Hinterfragen der eigenen Pädagogik und der laufende Abgleich mit den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler erschaffen ein dynamisches und von Veränderung geprägtes Arbeitsumfeld.
Hinzu kommen Gespräche mit den Eltern und Kindern in den sogenannten “persönlichen Kreisen”, in denen auf die Entwicklung des Kindes eingegangen wird und die Teilnahme am Eltern-Lernbegleiter-Kreis, wo gemeinsam mit der Elternschaft die übergeordneten pädagogischen Themen der Schule bewegt werden.
Alles kann - nichts muss
Die Arbeit an einer Schule wie dem FreiRaum erfordert viel Gelassenheit und Vertrauen in die Formkräfte der Kinder. Lernen von Innen folgt keinem geradlinigen Weg. Er ist oft sprunghaft und hat seine eigene Logik. Dieser Logik und den Impulsen der Kinder Vertrauen zu schenken, ist die Hauptaufgabe des Lernbegleitenden.
Die FreiRaum-Kinder entscheiden sich jeden Moment neu, mit was sie sich gerade beschäftigen wollen. Die Lernbegleitenden treten dabei nicht-direktiv auf. Sie halten den Raum für die freie und ungestörte Entfaltung der Lernimpulse, dokumentieren für sich den Lernbedarf und die Fortschritte der Kinder, ohne den Lernfluss der Kinder zu lenken.
Die Lernbegleitenden können ebenso wie die Kinder Lernangebote machen und Projekte initiieren. Auch die Elternschaft ist eingeladen, sich einzubringen. So entsteht eine bunte Mischung aus vielfältigen, ansprechenden und abwechslungsreichen Angeboten.
Und alles immer vor dem Hintergrund der absoluten Freiwilligkeit. Wenn Erstklässler lieber tagelang Pferdchen spielen oder die Kinder den größten Teil des Vormittags mit Zombie-Ball verbringen wollen, dann ist das möglich und willkommen.
Soziokratie als Organisationsform
Kirstina Betz bringt es auf den Punkt: “Geeint wird unsere Schulgemeinschaft durch die Soziokratie. Wir versuchen Lösungen zu finden, die für alle okay sind oder zumindest kein schwerwiegender Einwand dagegen steht.”
"In Bezug auf die pädagogische Umsetzung bedeutet dies für mich, dass ich jedes Kind und seine Interessen wahr- und ernst nehme, sie selbstbestimmt ihren Lernweg gehen können, ich sie lediglich dabei begleiten und unterstützen kann.”
In der wöchentlichen Schulversammlung haben die Kinder außerdem ein Plenum, um Problemlagen einzubringen, für die sie sich eine Veränderung wünschen. Schon junge Schülerinnen und Schüler äußern hier selbstbewusst, was ihnen gerade nicht passt und welchen Lösungsvorschlag sie haben.
Dazu Kristina Betz: “Jede:r darf so ein, wie er/sie ist. Es gibt wenige Regeln, an die wir uns alle gegenseitig immer wieder erinnern. Ich erlebe die Kinder als sehr selbstbewusst und sich ihrer selbst bewusst. Sie können ihre Grenzen klar machen und meist auf die Grenzen der anderen achten.”
Die gesamte Schulorganisation fußt in der FreiRaum-Schule auf dem Kreisdenken. Für jedes Thema, sei es Schulgarten, Lernbegleitung oder Finanzen, gibt es einen Kreis, der für gewisse Punkte autonom entscheidet und handelt.
Querschnittsthemen werden von den betreffenden Kreisen gemeinsam bewegt. Mit dieser Organisationsform wird sichergestellt, dass bei Entscheidungen alle gehört werden, die das Thema betrifft. Zugleich ist sie sehr partizipativ. Alle bringen sich nach individuellen Vorlieben und Fähigkeiten in das Schulleben ein.
Von diesem engen Verwobensein mit den Eltern sind natürlich auch die Lernbegleitenden betroffen. Eltern engagieren sich als Vorstände, bieten Projekte an oder helfen im Schulalltag mit. Diese starke Präsenz geht nicht immer leicht von der Hand und erfordert Einfühlungsvermögen und klare Absprachen.
Für Bianca Helfmann ist “die größere Nähe zu den Eltern und die teilweise nicht transparenten Erwartungen” herausfordernd. “Eltern wählen aus den unterschiedlichsten Gründen eine freie Schule für ihr Kind. Ihre persönlichen Themen, die hinter der Entscheidung stecken, sind vielschichtig. Sie wirken in den Schulalltag hinein und sollten gesehen werden. Besonders von den Eltern selbst.”
Was gewinne ich durch einen Wechsel an eine freie Schule?
Die Tätigkeit an einer freien Schule bietet die Möglichkeit, sich innerlich und äußerlich wach und beweglich zu halten. Das laufende Hinterfragen der eigenen Pädagogik und der Abgleich im Team fördern den Mut, Neues zu wagen und überkommene Methoden über Bord zu werfen.
Als Pädagoge erleben Sie sich wieder selbstwirksam und kreativ. Sie entwickeln Ansätze, verfeinern sie und beobachten, wie Ihr Engagement Früchte trägt. Oder Sie erleben sich auch im Scheitern, werden dann aber von einem Team aufgefangen, das Ihnen wertschätzend begegnet.
Dazu Kristina Betz: “Herausfordernd war für mich, dass ich nicht mehr „Einzelkämpferin“ sein musste, dass es nun ein Team gab und gibt, in dem wir zusammenarbeiten, uns gegenseitig unterstützen, viel dazu lernen und gleichzeitig jede:r für sich die persönliche Individualität bewahren darf.”
Der direkte, oft sehr intensive und individuelle Kontakt mit den Kindern lässt den Lernbegleitenden die Welt wieder ein Stück weit durch Kinderaugen sehen. Den Impulsen der Kinder Raum zu geben und zu beobachten, wie sie dabei lernen, ohne es selbst als Lernen zu bezeichnen, kann Glücksgefühle auslösen.
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